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   Mein weg zu meiner Wohnung hier in New York führt durch das Schlafzimmer eines anderen Mannes. In der Regel schläft er schon, wenn ich nach Hause komme. Er geht früh zu Bett, zwischen neun und zehn, und oft liest er vor dem Einschlafen noch ein Buch. Ich gehe, wenn ich um elf Uhr vorbeikomme, auf den Zehenspitzen, und wenn die Nacht nicht zu kalt ist, sehe ich sein Gesicht, völlig entspannt wie das Gesicht eines Kindes, das Buch liegt noch aufgeschlagen neben ihm, es ist seinen Händen entglitten, eine Flasche mit Orangensaft steht neben seinem Bett. Ein bißchen peinlich ist es schon, jeden Abend auf den Zehenspitzen durch sein Schlafzimmer gehen zu müssen. Trotzdem, wenn er noch wach ist, grüßt er freundlich, wünscht mir eine gute Nacht, und ich erwidere den Wunsch. Er ist mein Nachbar und wir kennen uns, ohne dass ich seinen Namen und seine Geschichte kennen würde. Aber würde er mir begegnen, irgendwo in einem Bahnhof, ich würde ihn wiederkennen, würde auf ihn zugehen und sagen, wir haben doch damals in New York in derselben Straße gewohnt. Vielleicht würde er mich auch wiedererkennen, weil ich ihm hier ab und zu ein paar Dollars zustecke oder neben sein Bett lege. Irgendwie ist mir das auch zwar peinlich, aber er bedankt sich sich freundlich und wünscht mir alles Gute.
   Vor meinem Haus hier schläft ein ‚‘homeless‘‘, ein Obdachloser, bei jeder Kälte, bei jedem Regen, und er ist mein Nachbar. Was mich an ihm so fasziniert, ist, wie ordentlich er wohnt. Ich habe selbst Mühe, meine gute und richtige Wohnung hier ohben in Ordnung zu halten. Seine Randexistenz verteigt er mit Ordnung, er hat zu überleben, Tag für Tag, Nacht für Nacht. ‚‘Not so bad‘‘, nicht so schlimm, sagt er, wenn ich ihn auf die fürchterliche Kälte anspreche, und ich schleiche beschämt in meine warme Wohnung. ‚‘Not so bad‘‘, sagt er wohl nur, um mich zu trösten, als ob er das Gefühl hätte, ich hätte es schwer. ‚‘Not so bad‘‘ heißt so etwas wie ‘’Mach dir keine Sorgen !’’
   Nun, vielleicht ist mein Homeless-Nachbar die Ausnahme. Er scheint, zum Beispiel, kein Trinker zu sein sein, er scheint sich noch nicht aufgegeben zu haben, er liest noch Bücher und die Zeitung. Und was mich beeindruckt, ist, dass er mit mir spricht. Er fragt nicht mal, woher ich komme, woher ich meinen Akzent habe, und er nimmt es mir nicht übel, dass ich täglich durch sein Schlafzimmer gehe, auf dem Weg zu meinem warmen Bett. Ich bin ja eigentlich der doppelte Fremde für ihn: Ich bin –mein Akzent verrät mich- ein Tourist, also ein Reicher, und ich bin einer mit einem warmen Bett, also ein Privilegierter.
   Nun gibt es das ja in der Schweiz nicht –oder nicht so häufig. Trotzdem, ich frage mich, was geschehen würde, wenn es das gäbe. Würden wir mit ihm sprechen? Würde er mit uns sprechen und wären wir wie richtige Nachbarn? Aber eben, das gibt es in der Schweiz nicht. Oder gibt es das doch? Gibt es vielleicht doch  Ähnliches, Vergleichbares in der Schweiz? Und wir wollen es nur nicht sehen, wir wollen keine solchen Nachbarn. Und wir wollen schon gar nicht, dass sie mit uns sprechen.
   Ich jedenfalls bin dankbar dafür, dass mein Nachbar mein schlechtes Englisch erträgt, dass er mit mir spricht, vielleicht, um mich zu trösten, und dafür, dass ich sein Nachbar sein darf und er mich nicht hasst.

Nach Peter BICHSEL, 1992 in ‚‘Schweizer Illustrationierte‘‘.



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